Elisabeth von Thüringen
Der 800. Geburtstag der hl. Elisabeth von Thüringen im Jahr 2007 ist der Anlass, an ihr Leben zu erinnern. Erinnerung bedeutet dabei auch, in diesem Frauenleben Hinweise zu suchen, die unsere Gegenwart messen. Dabei können nur einzelne Auffälligkeiten erwähnt werden, obwohl die Chroniken immer noch neue Überraschungen bieten. Grundzüge lassen sich nennen, das vielseitige Verhalten ist deren Illustration.
Elisabeth von Thüringen ist eine der bekanntesten und am meisten verehrten Heiligen in unserer Kirche, aber auch als neurotisch abgetan, als kranke, gestörte Person beschrieben. Eine Geschichte dieser Deutungen wäre aufschlussreich.
Einzelne und Gruppen berufen sich auf sie. Nicht wenig bleibt im Bunt-Legendenhaften stecken, unbeholfen, vordergründig. Es war wohl etwas voreilig und ein nicht mutiges Heiligen-Verständnis, als im Jahr 1971 der Verband der ehrenamtlichen Caritasfrauen seinen Namen "Elisabeth-Konferenzen" in "Caritas-Konferenzen" umbenannte. Was störte damals an der hl. Elisabeth? Damals entwickelte sich der Begriff der Fachlichkeit, nüchternes Können. Da passten Lieder wie "Hohe gnädige, wundertätige hl. Elisabeth" nicht in die Tätigkeitsberichte. Obwohl schon damals die Forschung das Legendenhafte durchbrochen hatte - und heute? Bleibt sie eine pathetische Erinnerung? Legendeninhalt beliebig übertragbar? Sie ist eine in gewisser Hinsicht befremdende, bestürzende Existenz. Vergleiche mit ihr fallen für den, der sich an ihr messen will, notwendigerweise negativ aus. Kaum etwas an ihr ist normal.
Legenden entstanden schon während ihres Lebens. Sie bleiben wichtig. Die Legenden zeigen, was damalige Menschen von ihr erwarteten, aber auch, was sie erhielten. Legenden über Elisabeth sind erfüllte Erwartungen, Ausdruck von Dankbarkeit. Heute wird eher der geschichtliche Hintergrund gesucht. Trotzdem bleibt es mir rätselhaft, dass diese Elisabeth von Thüringen mit ihrem kaum erklärbaren, ja auch z. T. abschreckenden Leben nun fast 800 Jahre hindurch bewundert und als Vorbild angenommen wird.
Da aber beginnt ein erstes Problem: Sind die Maßstäbe unserer Caritas, unserer Nächstenliebe, der sozialen Arbeit vorbildliche Menschen, maßgebende Menschen, wie Karl Jaspers sie nennt? Sind es nicht eher Umfragen, Statistiken, Lehrpläne, gesetzliche Vorgaben - eine echte Fremdbestimmung? Haben wir das Problem, uns an Menschen zu messen: persönlich - beruflich? Nächstenliebe aus fachlicher Distanz, ist das Schutz vor Gefühl und Mitempfinden? Ich erinnere mich an die Gegenfronten damals bei der Entwicklung der Aids-Hilfe. Rationale Beurteilung wurde angebracht, das hieß Schuldzuweisung. Man war aidskrank, weil man schuldig war, was für eine Hilflosigkeit und welcher Konflikt mit Elisabeth! In der Drogenfrage gab es Ähnliches, als die Methadon-Frage entstand. Beides ging nur im Mitempfinden, und das wehrte man ab.
Politisch verwirrte Zeit
Elisabeths Lebenssituationen sind bald aufgezählt:
- als Königstochter 1207 in Ungarn geboren;
- mit vier Jahren an den Hof nach Thüringen gebracht, von den Eltern zur Ehe mit dem jungen Landgrafen Hermann bestimmt;
- mit neun Jahren soll sie wieder zurückgeschickt werden, da ihr Verlobter starb - aber Ludwig, der jüngere Bruder Hermanns, erwählte sie zur künftigen Frau, beide werden wie Geschwister gemeinsam erzogen;
- mit 14 Jahren vermählt und als Landgräfin eingesetzt;
- mit 20 Jahren Witwe mit drei kleinen Kindern im Alter von fünf und drei Jahren, das jüngste ist noch nicht geboren, als sie die Nachricht vom Tod ihres Mannes erhält;
- mit 21 Jahren in Marburg auf ihrem Witwengut in frei gewählter Armut, zu der auch der Verzicht auf ihre Kinder gehört;
- mit 24 Jahren (1231) stirbt sie.
Das sind die äußeren Daten, aber Daten in einer politisch verwirrten Zeit, durch zerrüttete Familien, zerstrittene Fürsten. Elisabeths Vater war ein kriegerischer Ungar. Ihre Mutter wurde, zwei Jahre nachdem Elisabeth in Deutschland war, in einem Aufruhr erschlagen. Sie war eine Schwester der hl. Hedwig.
Der Schwiegervater in Thüringen war im Kirchenbann gestorben. Er hatte im kriegerischen Wechsel zwischen Welfen und Staufern päpstliche Interessen verraten. Dieser Kirchenbann verstörte das Leben ihrer Schwiegermutter, der Landgräfin Sophie, die lebenslang für ihren toten Mann strenge Buße tat. Eine Atmosphäre, die Elisabeth mitprägte. Sie wuchs auf in einem politischen Durcheinander und in der kirchlichen Zeit der Inquisition. Die alte Landgräfin war es auch, die ihr den Tod ihres Mannes mitteilte. Feindlich und bösartig ihr gegenüber war die Familie zunächst nicht. Wohl der nichtfamiliäre Adel, als er ihre Verschwendung sah. Während einer Abwesenheit übertrug ihr Mann ihr die Regentschaft des Landes. Bei der Rückkehr lobte er ihre Arbeit, kein Tadel darüber, dass ganze Vermögensanteile an die Armen gegeben worden waren.
Auch das bestätigt die in allen Berichten erzählte glückliche Ehe von Ludwig und Elisabeth, zwischen "dem Knaben Bräutigam und dem Kindchen". Oft wird die fast wahnsinnige Trauer verschwiegen, als Elisabeth vom Tod ihres Mannes erfuhr. Tobend soll sie durch die Wartburg gelaufen sein. Beider Liebe wird in den Chroniken sehr betont. Trotzdem war ihre Ehe wohl für beide eine zu erhebende Qual. Sie legt einen Aussätzigen an die Stelle ihres Gatten in ihr Bett.
Hinter Elisabeth lag eine mit schwerer Schuld beladene Familiengeschichte, die sie durch ihr wirklich entgegengesetztes Leben mit den Ärmsten und Erniedrigsten leidvoll sühnen wollte. Buchstäblich gab sie alles weg und packte selbst zu. Hilfe für Arme war damals beim Adel eine Selbstverständlichkeit, aber man ließ helfen, gab Aufträge an die Dienenden. Elisabeth half selbst, und das fiel auf, wurde ärgerlich. Ihre Hilfe bekam eine Schärfe: Sie teilt die Not und Armut, lebt freiwillig so wie jene, denen sie hilft. "Wir müssen die Menschen so glücklich machen, wie wir nur können."
Bibel wörtlich genommen
Elisabeth fiel auf. Was da in Marburg passierte, überstieg jedes Verständnis. Sie wollte die Forderungen der Heiligen Schrift, von Christus geboten, wörtlich erfüllen. Aber zeigt Elisabeth nicht die Unmöglichkeit christlichen Lebens? Kann man die Liebe Jesu wirklich genau erfüllen? Oder gelingt bestenfalls eine Annäherung an diese Ideale?
Und Elisabeth fiel auf: ärgerlich, wütend (nicht selten wurde sie von denen geschlagen, denen sie geholfen hatte). Sicher gab es auch Menschlichkeit: Kaiser und Papst wurden auf sie aufmerksam. Friedrich II. wollte sie sogar heiraten.
Nächstenliebe, muss sie nicht auffallen? Die Caritas? Gesellschaftlich, politisch, innerkirchlich? Ich überlege: Über welche Institutionen unserer Kirche freue ich mich, was fällt auf, worüber wundere ich mich?
Die erste Enzyklika Benedikts XVI. "Deus caritas est" fällt auf, man wunderte sich: Caritas und Soziallehre der Kirche sind unentbehrlich. Der Papst verkündet nicht eine brausende Lehre, nicht Überlegungen, die nur der Intelligente begreift, anspruchsvolle Caritas. Noch scheint mir diese Enzyklika im Verhalten nicht angekommen.
Unser Caritas-Auftrag
Was fällt auf, worüber wundert man sich? Wir haben in der Caritas in den letzten Jahrzehnten eifrig an einer gesetzlichen Sicherung mitgearbeitet und diese auch umfassend erreicht. Gestöhnt haben wir aber immer, noch mit dem Geld in der Hand. Und gestatten Sie mir die Frage, ob der Wunsch nach totaler, vorhersehbarer Absicherung nicht doch den Caritas-Auftrag verletzt. Ohne Zweifel: Sie haben es heute schwerer, als wir in unserer Verantwortung es hatten. Auch hatten wir durchweg die Politik mehr auf unserer Seite als die eigene Kirche. Wir dürfen heute unsere Initiativfreude nicht verlieren. Es wäre unverantwortlich, die Notwendigkeit von Veränderungen und Beendigungen nicht anzuerkennen. Aber es setzt mir jedes Mal zu, wenn ich höre, dass Abbau als Erfolg gewertet wird. Was haben wir in der Vergangenheit falsch gemacht, dass die heutige Situation entstehen konnte? Da wird der Maßstab der hl. Elisabeth zum Wagnis. Im Leben der Burg erlebte Elisabeth, wie gedankenlos dort geprasst wurde, was unrechtmäßig den Armen, den Bauern entzogen wurde. Leben im Luxus auf Kosten der Armen, Luxus, der Armut verursachte. Elisabeth "bedachte, dass die Armen entgelten mussten, was die Fürsten und Herren in Wollust verzehrten". Sie wollte nicht von den Erträgnissen und Steuern leben, die man von den Bauern erpresst hatte. Sie nahm nur das, was auf rechtliche Weise erworben war.
Das war ihr Protest gegen die Lebenshaltung der Fürsten. Mit dem Vorsatz, alle aus ungerechten Einkünften stammenden Speisen abzulehnen, stellte sie sich auf die Seite des geplagten Volkes. Man hat dieses ein Verhalten "von sozialreformatorischer Bedeutung" genannt. Protest gegen Fürstenwillkür, Anteilnahme an den Bemühungen des armen Volkes. Elisabeths Speise-Disziplin bedeutet einen unscheinbaren, aber wichtigen Einschnitt in die mittelalterliche Glaubenswelt, der ganz anders gewertet werden muss, als wie das heute geschieht. Sie hat die sozialen Nöte ihrer Zeit scharf empfunden. Das Wort gab es im 13. Jahrhundert noch nicht, die Sache aber sicher.
Elisabeth hat nicht daran gedacht, die Ursachen der Ungerechtigkeiten abzustellen. Sie eine Vorläuferin des Sozialismus zu nennen ist eine Verzeichnung. Sie ging einen persönlichen Weg, sich von der Mitschuld zu enthalten. Aber das öffentliche Echo - auch das ärgerliche - zeigte, dass sie die Gewissen berührte.
Keine "sanfte" Heilige
Wenn wir diese Verhaltensweise der Heiligen beachten, dann vergeht die harmlose Vorstellung von der wohltätigen Fürstin. Elisabeth zeigt aber auch, dass wir Einfluss und Hilfsmöglichkeiten nicht verlieren, wenn materielle Bedingungen sich verändern, die persönliche Haltung, Barmherzigkeit aber bleibt.
Für den Adel ihrer Zeit, ihre Umgebung, war Elisabeth eine törichte und geistesgestörte Person, total unangepasst. Ein Stachel ihrer totalen persönlichen Armut darf - so meine ich - nicht verschwiegen werden. Ältere Geschichtsschreiber nennen es eine "extravagante Art, lebensfremde, schwärmerische Illusion". Vom Standpunkt der Vernunft geurteilt, handelte Elisabeth töricht. Aber wer Jesus wörtlich folgt?
Als nach dem Tod ihres Mannes die Atmosphäre auf der Burg für sie immer schwerer wurde, beschloss Elisabeth wegzugehen. Das Verlassen der Burg wurde in der älteren Literatur umsichtig dargestellt, indem man von einer Vertreibung sprach, aber es war eher eine Flucht als eine Verstoßung, denn die Verwandtschaft verbot ihr, ihre Speisegebote zu bewahren, man zwang sie um den gemeinsamen Tisch. So sehr wurde ihr Protest verstanden. Da begann das Leben in völliger Armut und im Einverständnis ihrer Umgebung.
Reinhold Schneider schreibt über sie: "Dem Christen ist Elisabeth ein Zeichen der verzehrenden Unerreichbarkeit des Christentums." Man kann ihr nicht nachleben. Nur angedeutet werden konnte ihre totale Armut.
Und doch bleibt für uns ein Stachel: Mit Barmherzigkeit, mit Nächstenliebe kann man keine Karriere machen. Sie war keine sanfte Heilige, wie manche Legende verständlich machen will. Sie ist ein harter Maßstab, die klar ihren Weg ging.
Dieser Beitrag ist das Manuskript eines Vortrags beim Neujahrsempfang 2007 des Caritasverbandes im Bistum Essen. Der Text wurde geringfügig gekürzt.
Dompropst em. Günter Berghaus
Direktor des Diözesan-Caritasverbandes Essen bis 1999