"Die Politik hat die Büchse der Pandora selbst geöffnet"
Caritas in NRW: Herr Mertens, wie dramatisch stellt sich die Lage auf dem NRW-Wohnungsmarkt dar?
Thorsten Mertens: In NRW haben wir eine gespaltene Situation. Da sind zum einen die Ballungsräume der Rheinschiene, wo man tatsächlich von Wohnungsnot sprechen kann, teilweise auch im Ruhrgebiet, wobei auch dort die Situation völlig gespalten ist. Im ländlichen Raum würde ich nicht von Wohnungsnot sprechen. In Städten wie Paderborn haben wir zwar einen etwas angespannteren Wohnungsmarkt, aber nur 20 Kilometer weiter kämpft man schon mit Wohnungsleerständen.
Caritas in NRW: Viele Menschen sind gezwungen, in den Ballungsräumen zu wohnen, weil sie auf dem Land keine Arbeit finden. Diese Menschen wurden in den letzten Jahren mit enormen Mietkostensteigerungen konfrontiert. Eine Prognos-Studie geht von 17 Prozent in den letzten fünf Jahren aus…
Thorsten Mertens: Solche Studien zur Entwicklung der Angebotsmieten sind mit Vorsicht zu genießen. Da werden dann schnell 30 oder 40 Angebote im Internet oder in der Tageszeitung als Grundlage genommen, um die aktuellen Mieten für eine Stadt zu ermitteln. Natürlich gibt es Ausreißer nach oben, aber diese spiegeln nicht das tatsächliche Preisniveau wider. Mietpreissteigerungen müssen immer unter Berücksichtigung der Inflationsraten bzw. der Realeinkommenssteigerungen betrachtet werden, ansonsten entsteht leicht ein verfälschter Eindruck. Zur Beurteilung der Wohnkostenbelastung der Haushalte ist die Mietentwicklung im Kontext der Kaufkraftveränderung zu sehen. Netto- und Erwerbseinkommen, Renten, Pensionen, Arbeitslosengeld, Kindergeld, Sozialhilfe, Wohngeld und BAföG sind in den letzten Jahren gestiegen. Und so haben wir im Kreis Paderborn das Phänomen, dass trotz steigender Warmmieten die Wohnkostenquote infolge der gestiegenen Haushaltskaufkraft sogar leicht gesunken ist, um 0,3 Prozent auf 17,5 Prozent. In der Paderborner Innenstadt liegt sie derzeit bei etwa 20 Prozent. Deutlich wird, dass die sozialpolitisch keineswegs wünschenswerten Preissteigerungen nicht überall zu überdurchschnittlich steigenden Haushaltskraftverlusten geführt haben.
Caritas in NRW: Dennoch zahlen nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung im Durchschnitt inzwischen etwa 40 Prozent aller Haushalte in bundesdeutschen Großstädten mehr Miete, als es nach dem Einkommen leistbar wäre. Warum ist es so schwierig, preiswerte Wohnungen anzubieten?
Thorsten Mertens: Knapp zusammengefasst: Die Politik hat die Büchse der Pandora selbst geöffnet - und das schon vor vielen Jahren. Wir haben die missliche Situation, dass wir in Deutschland ständig steigende Baunormen erfüllen müssen im Bereich von Brandschutz, von Schallschutz, von energetischen und statischen Anforderungen. Von 2000 bis 2015 haben sich dadurch die Gestehungskosten für ein Neubauprojekt um ungefähr 55 Prozent erhöht. In der gleichen Zeit ist die Anzahl der Bauvorschriften von 5000 auf 20000 gestiegen. Ein wesentlicher Kostentreiber sind die energetischen Anforderungen. Die hatten eine absolute Berechtigung, als es darum ging, die Umwelt zu entlasten und gleichzeitig die Energiekosten privater Haushalte zu reduzieren. Aber inzwischen haben diese Anforderungen ein Ausmaß angenommen, das zwar die Kosten weiter in die Höhe treibt, aber nur noch marginale Effekte für die Umwelt bringt.
Caritas in NRW: Welchen Einfluss hatte die Finanzkrise auf den Immobilienbereich?
Thorsten Mertens: Die Konsequenzen der Krise spüren wir bis heute: Extreme Niedrigzinsen und mangelnde Anlagealternativen bei gleichzeitig hoher Liquidität - das alles hat dazu geführt, dass man sich aus vielen anderen Investitionsbereichen zurückgezogen und auf den Immobilienbereich konzentriert hat. Seitdem wird dieser Markt ohne Ende befeuert. Die Preise für Grundstücke in lukrativen Lagen sind explodiert. In Kombination mit den hohen Baukosten führt dies dazu, dass es sich für Investoren selbst angesichts niedriger Finanzierungskosten nur noch rentiert, wenn sie im hochpreisigen Bereich bauen und die Grundstücke extensiv ausnutzen. Hinzu kommt, dass ausländische Investoren den deutschen Immobilienmarkt als sicheren Hafen entdeckt haben. Inzwischen zielt deren Engagement nicht mehr nur auf sogenannte A-Lagen, sondern sogar auf Städte in B- und C-Lagen.
Caritas in NRW: Sind die hohen Bau- und Grundstückskosten auch der Grund, weshalb so wenig in den öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbau investiert wird?
Thorsten Mertens: Das ist genau die große Problematik. Öffentliche Wohnungen werden mitfinanziert durch kostengünstige Darlehen des Landes. Da aber die Kapitalmarktzinsen ähnlich gering sind, habe ich mit öffentlichen Mitteln keinen Finanzierungsvorteil.
Gleichzeitig muss ich davon ausgehen, dass die Kommune die öffentlich geförderte Wohnung auch entsprechend belegt, möglicherweise mit problematischen Mietern. Und dies in einer Stadt wie Paderborn zu einer festgelegten monatlichen Kostenmiete von 5,25 Euro pro Quadratmeter. Das alles schreckt viele private Investoren ab.
Caritas in NRW: Ist also der soziale Wohnungsbau kein geeignetes Instrument mehr?
Thorsten Mertens: Das Land hat ja reagiert, die Darlehenssätze sind ja noch einmal reduziert worden auf jetzt null Prozent mit einer Laufzeit von zehn Jahren. Man kann seitdem feststellen, dass mehr im öffentlichen Wohnungsbau investiert wird. Das ist zwar nicht der große Wurf, aber es ist zumindest Bewegung in den Markt gekommen.
Caritas in NRW: Würde nicht eine Wiederbelebung des 1989 abgeschafften sozialen Wohnungsmarktes helfen, auf dem dann gemeinnützige Wohnungsgesellschaften preiswerten Wohnraum anbieten könnten?
Thorsten Mertens: Ich kann mir allein aus ökonomischen Gründen gar nicht vorstellen, wie so etwas funktionieren soll. Alle Unternehmen, egal wie das Kind heißt, haben immer die gleiche Problematik der hohen Grundstücks- und Baukosten. Warum jemand mit dieser Problematik besser umgehen kann, der nicht privatwirtschaftlich organisiert ist, erschließt sich mir nicht.
Das Gleiche gilt für die Forderung nach Gründung kommunaler Wohnungsgesellschaften. Warum soll die öffentliche Hand, der es in anderen Bereichen auch nicht gelingt, plötzlich im Wohnungsbau ökonomischer handeln können als private Unternehmen?
Hinzu kommt, dass kommunale Wohnungsunternehmen auf Gedeih und Verderb verpflichtet sind, ohne Auswahlkriterien jeden Mieter unterzubringen, vor allem im Geschosswohnungsbau. Dies ist brandgefährlich. Es führt langfristig zu einem Abbau der sozialen Durchmischung von Wohngebieten, zunehmender Segregation und letztlich zu neuen Ghettos. Im Nachhinein kann man solche Kettenreaktionen nicht mehr heilen.
Caritas in NRW: Welche Vorteile bieten Wohnungsgenossenschaften gerade im Hinblick auf die gewünschte, weil stabilisierende soziale Durchmischung von Wohngebieten?
Thorsten Mertens: Genossenschaften wie der Spar- und Bauverein Paderborn haben das ganze Quartier im Blick. Wir achten bei Vermietungen darauf, ob die Person nicht nur in das Haus, sondern auch in das Umfeld passt. Diese gemischte Mieterstruktur ist die Voraussetzung für Stabilität. Bei uns wohnt der Spiegel der Gesellschaft: von bitterarm bis extrem reich, von gesund bis krank, von jung bis alt. Was die Qualität der Wohnungen anbelangt, profitieren alle von nachhaltigen und langfristigen Investitionen der Genossenschaft. So gibt es allein schon bei der Architektur keinen Unterschied zwischen öffentlichem und frei finanziertem Wohnungsbau.
Das Interview führte Jürgen Sauer.
Spar- und Bauverein Paderborn
Die 1893 gegründete Genossenschaft bietet fast 2900 Mietwohnungen zu Quadratmeterpreisen von durchschnittlich 4,78 Euro für öffentlich geförderte und 5,27 Euro für frei finanzierte Wohnungen. Die Genossenschaft investiert kontinuierlich auch in innovative Wohnformen, teilweise in Kooperation mit dem Caritasverband Paderborn. So entstanden u. a. Senioren-Wohngemeinschaften und ein Wohnkomplex für das Mehrgenerationenwohnen mit integrierter Tagespflege.