Erste Hilfe
Häusliche Gewalt ist kein Problem sozialer Randgruppen. Sie findet weithin unbemerkt statt in der Mitte unserer Gesellschaft.picture alliance/Bildagentur-online/TIPS-Images
Die 16 Jahre alte Pia* ist jahrelang vom Vater sexuell missbraucht und geschlagen worden. Bei der Recherche im Internet wird sie auf www.gewaltlos.de aufmerksam und besucht öfter den Chat. Eines Tages traut sie sich "auf den letzten Drücker" in den Beratungs-Chat und offenbart einer Beraterin ihre Situation: Der Vater war zwei Monate auf Geschäftsreise und wird am nächsten Tag wiederkommen. Pia berichtet über die Misshandlungen, offenbart schlimme Details und schildert ihre Angst. Sie will, dass "das" aufhört, doch sie möchte nicht, dass ihr Vater bestraft oder aus der Familie genommen wird. Pia wünscht sich sehnsüchtig einen "normalen" Familien-Alltag. Außerdem, so sagt sie im Chat, schäme sie sich, da sie ja "mitgemacht" habe. Und ihr Vater hat ihr Furchtbares angedroht, wenn sie "plaudert". Die Beraterin telefoniert parallel zum Chat mit der örtlichen Polizei, macht eine Notunterkunft ausfindig sowie eine Notrufnummer für Pia. Sie leitet die Infos an Pia über den Chat weiter, damit diese gewappnet ist.
Kein ungewöhnlicher Fall. Viermal in der Woche ist der Beratungs-Chat des SkF besetzt. Dann sitzen die Sozialpädagoginnen Ulrike* und Karin* vom SkF-Team und andere namens Ricarda.ea* oder Waltraud.ea* irgendwo in Deutschland vor dem Computer. Sie bedienen die Tastatur und treten damit ein in einen virtuellen Raum, die sogenannte Lobby. Das ist ein Chat-Raum auf der Homepage "gewaltlos.de". Dorthinein kann zunächst einmal jeder, als Gast, unter einem Pseudonym, anonym eben. "Wer möchte ein Beratungsgespräch haben?", ist die wichtige Frage, die die Sozialarbeiterinnen des SkF stellen. Wer Beratungsbedarf signalisiert, wird dann von einer der SkF-Frauen in einen "geschützten" (weil von anderen nicht einsehbaren) Beratungs-Chatraum eingeladen. Per Tastatur, anonym und sozusagen unter vier Augen.
"Gestern war im Chat ein Mädchen, das sich selbst verletzt hatte. Sie hat sich ‚geritzt‘", berichtet Ulrike. Das Mädchen war über Jahre hinweg sexuell missbraucht und körperlich misshandelt worden und lebt jetzt in einem Heim. "Ich kenne ihren wirklichen Namen nicht, ich weiß nicht, wo das Heim ist, ich kann nur über den Chat versuchen, auf sie einzuwirken", sagt Ulrike. Manchmal helfen einfache "Skills", also Fertigkeiten, um den Drang zum Ritzen zu bekämpfen: ein Coolpack aus der Tiefkühltruhe fest in die Hand zu nehmen, einen Igelball fest zu drücken oder ein Gummiband um das Handgelenk zu spannen und dann flitschen zu lassen. "Das hilft", sagt Ulrike. Es geht in der Situation darum, sich selbst zu spüren. Ist die akute Bedrohung abgewendet, kann die Beraterin gemeinsam mit dem Gegenüber im Chat Perspektiven entwickeln. "Ich habe mit dem Mädchen vereinbart, dass es noch während der Öffnungszeit des Chats zu einer Betreuerin geht und ihr die Verletzungen zeigt - und dann hinterher wieder zu mir kommt", sagt Ulrike. Es hat funktioniert.
Jahrelanger sexueller Missbrauch
"gewaltlos.de" arbeitet auch mit Ehrenamtlichen (Ricarda.ea oder Waltraud.ea), die im Chat anwesend sind und in etwa eine Funktion als virtuelle Sprech-stundenhilfe wahrnehmen. Sie haben den Überblick in der Lobby, führen Vorgespräche, "flüstern" den Beraterinnen Notfälle zu, vermitteln, erklären, besänftigen und halten hin, wenn die Beraterin gerade im Vier-Augen-Chat ist. "Bevor die Ehrenamtlichen anfangen, müssen sie eine Schulung durchlaufen, wo die Voraussetzungen geklärt werden", erklärt Angelika Wiedenau, Fachbereichsleiterin Niedrigschwellige Hilfen und Gefährdetenhilfe beim SkF Köln. Die Ehren-amtlichen absolvieren Übungseinheiten zu Themen wie "Nähe und Distanz", zur "Chat-Sprache" und zu dem, was sie erwartet. "Das müssen sie lernen, das müssen sie üben, das ist sehr anstrengend und anspruchsvoll. Viele Ehrenamtliche sind anfangs sehr angespannt, entsetzt über die Schicksale der Frauen und Mädchen, die manchmal noch keine 14 Jahre alt sind", erklärt Angelika Wiedenau.
„Wir würden gern mehrsprachig beraten“, sagt Angelika Wiedenau, die das Projekt koordiniert. Bislang reicht die Finanzierung aus Eigenmitteln, Spenden und durch Sponsoren dafür nicht aus.Markus Lahrmann
Pias* Fall, den der SkF dokumentiert hat, entwickelte sich zunächst gut: Das Mädchen sprach nach der Chat-Beratung das erste Mal mit seinem Klassenlehrer über die Situation, allerdings "nur über die Schläge". Der Lehrer bot ihr Hilfe an. Als der Vater erneut zusätzlich zum Missbrauch Dinge von ihr verlangte, die sie verweigerte, drohten wieder heftigste Schläge. Sie nutzte eine Gelegenheit und lief von zu Hause weg. Der Lehrer brachte sie in die Notunterkunft, und sie fing an, sich zu regenerieren. Als sie nach einer Woche wieder nach Hause sollte, da sich die Eltern therapiewillig und einsichtig zeigten, fasste sie endlich den Mut, sich ihrem Betreuer auch wegen des jahrelangen sexuellen Missbrauchs anzuvertrauen. Daraufhin konnte sie länger in der Notunterkunft bleiben, und gemeinsam mit dem Jugendamt wurde nach Alternativen für sie gesucht.
"Jedes Mädchen und jede Frau, die bei "gewaltlos.de" in die Einzelberatung kommt, muss sich akut in einer Gewaltsituation befinden oder eine Gewaltsituation erfahren haben, die ihr Leben beeinträchtigt", erklärt Angelika Wiedenau. Manchen gelingt es nur hier in der Anonymität der Internet-Chats, den ersten Schritt zu tun: Sie müssen sich mit ihrem Problem nicht zeigen. Vielen Mädchen fällt es schon schwer, das Furchtbare überhaupt auszusprechen: Die Scham ist oft unendlich groß. "Das Schreiben ist für die meisten Frauen einfacher, als zu sprechen", sagt Wiedenau. Ziel der Chat-Beratung ist es, akute Krisenhilfe zu leisten und verschiedene Möglichkeiten aufzuzeigen, die gegenwärtige Situation zu verändern. "Eine Hilfesuchende kann so lange in Beratung bleiben, bis wir sie an jemanden im reellen Leben ‚angedockt‘ haben, an eine Beratungsstelle, einen Therapeuten. Dann verabschieden wir sie so langsam", sagt Angelika Wiedenau.
Intensive begleitende Krisenintervention
Bei Pia* bestand in der akuten Phase vier- bis sechsmal wöchentlich Kontakt zur Beraterin der Homepage. Sowohl im Chat als auch bei Einzelterminen und durch E-Mail-Kontakt fand eine intensive begleitende Krisenintervention statt. Die Mitarbeiterin erarbeitete mit dem Mädchen gangbare Wege in seinem Tempo, informierte es über Hilfeeinrichtungen vor Ort und ermutigte es ständig, sich jemandem in seiner Umgebung anzuvertrauen. Außerdem konnte das Mädchen im Rahmen der anonymen Beratung seine aktuellen Erlebnisse und Gefühle aussprechen und so einen Prozess der Verarbeitung in Gang setzen.
Doch der Fall nahm eine weitere dramatische Wendung: Pia wurde beim Einkaufen von einem Freund des Vaters gesehen. Er brachte sie ins Haus der Eltern, die erzählt hatten, sie sei weggelaufen. Gelähmt vor Schock und Angst, ließ Pia es geschehen. Zu Hause erfolgte innerhalb von zwei Stunden ein mehrmaliger Missbrauch durch den Vater. Zusätzlich dazu verprügelte er sie grausam mit einer Rohrzange, da er befürchtete, sie könne ihr "Geheimnis" ausgeplaudert haben. Die Mitarbeiter der Notunterkunft vermissten das Mädchen nach 1,5 Stunden und fuhren mit der Polizei zum Elternhaus. Der kleine Bruder öffnete die Tür, und der Betreuer samt Polizisten stürmte in ihr Zimmer. Dort wurden sie Zeugen des Missbrauchs, was für das Mädchen ein neues traumatisches Ereignis war. Der Vater wurde festgenommen. Pia konnte nach einem Krankenhausaufenthalt wieder in die Notunterkunft. Dort wird sie therapeutisch begleitet und versucht, eine Zukunftsperspektive zu finden.
* Da nicht nur Opfer, sondern auch schon Beraterinnen bedroht wurden, sind die Namen und Orte aus
Sicherheitsgründen geändert worden.
www.gewaltlos.de ist eine Initiative von mehreren örtlichen Vereinen des Sozialdienstes katholischer Frauen. Das Angebot existiert seit 2004 und wird fast ausschließlich über Spenden finanziert. Die Zahl der neuen Besucherinnen ist zuletzt weiter gestiegen. Auch die Zahl der minderjährigen Besucherinnen, die Probleme mit ihren Eltern haben (Gewalterfahrungen, Missbrauch), steigt.
Das hängt möglicherweise mit dem gestiegenen Bekanntheitsgrad durch die Präsenz in Facebook zusammen, das besonders Jugendliche für Kommunikation und Information nutzen.
Spendenkonto: SkF, Pax Bank Köln, BLZ 37060193, Konto 152 410 47, Stichwort: GEWALTLOS
Häusliche Gewalt
Sie geschieht am häufigsten in Paarbeziehungen. Gewalt in den "eigenen vier Wänden" bedeutet, dass das Opfer keinen Rückzugs- bzw. Schutzraum hat. Es entsteht das Gefühl, dem Täter schutzlos ausgeliefert zu sein. Häusliche Gewalt ist in der Regel kein einmaliges Ereignis. Sie ist kein "Versehen" oder eine "Ausnahme im betrunkenen Zustand", sie ist keine "Bagatelle" und auch keine "hilflose Reaktion auf eine Provokation". Keine dieser oft von den Tätern verwendeten "Entschuldigungen" oder "Erklärungen" rechtfertigt die Gewalt. Häusliche Gewalt zielt darauf ab, Macht und Kontrolle über die Partnerin zu gewinnen. Sie führt zu einem Leben in ständiger Angst, die das Selbstbewusstsein des Opfers zerstören und bis zur Handlungsunfähigkeit führen kann. Aus Angst und Scham trauen sich die Betroffenen oftmals nicht, sich anderen anzuvertrauen.